Medien-Didaktik

Paradigmenwechsel hat längst begonnen

Ausgangspunkt Multimedia

Es dürfte sich lohnen, das zentrale, durch die rasante informationstechnologische Entwicklung in den Mittelpunkt geschwemmte Phänomen "Multimedia" aufzugreifen und daran eine Reihe von typischen Missverständnissen aufzuarbeiten. Die Chancen jedenfalls sind erheblich, am Beispiel von "Multimedia" grundlegende Fragen der Mediendidaktik zu thematisieren und womöglich das Verständnis für den fotschreitenden Paradigmenwechsel zu schärfen, der von der "Literalität" tradierter Buchkultur wegführt und in eine der veränderten Medienlandschaft angemessenere "Medienbildung" münden könnte. Die europäische Kulturgeschichte kennt ja seit Jahrhunderten mit Oper, Film, Fotoroman, Lied, Variete usw. eine beachtliche Fülle intermedialer Darbietungsformen, die im Prinzip linear ablaufen und nur eine rezeptive Mediennutzung erlauben. Durch die Digitalisierung von Bild, Schrift und Ton gewinnt Multimedia allerdings neue, weitergehende Dimensionen.

Im alltäglichen Gebrauch ist leider der Begriff "Multimedia" zu einem Modewort mit austauschbarem Inhalt verkommen, in welchem unterschiedlichste Sachverhalte, nämlich Technik, Modalität und Kodierung unzulässig vermischt werden. Es empfiehlt sich darum, zumal alle drei Elemente mediendidaktische Relevanz besitzen, bewusst zu unterscheiden zwischen
a)der Integration verschiedener Medien in demselben Gerät
(z.B.Tel und TV)
POLYMEDIALITAET
b)den verschiedenen Sinneskanälen die das Angebot anspricht
(z.B.Auge und Ohr)
MULTIMODALITAET
c)und dem Symbolsystem, in dem eine Botschaft codiert ist
(z.B. Schrift, Sprechsprache, Bild, Ton, Zahl)
MULTIKODALITAET
Uns interessiert für die Mediendidaktik nun primär diese dritte Ebene, die Kodalität, denn diese ist für das Lernen der entscheidendere Faktor als die beiden andern Aspekte. Die Sinnesmodalität wurde nämlich lange Zeit überschätzt, und unzählige Studien ab den 60er Jahren belegen, dass ein Lernstoff nicht generell besser in Printform, über einen PC-Bildschirm oder durch einen Lehrer vermittelbar ist (nach Weidenmann "multimediales Lernen" in Grundbegriffe Medienpädagogik S. 333 f).
Vorab exakt zu klären ist nun, was sich in den Symbolsystemen durch die Digitalisierung effektiv ändert.
Im Vordergrund steht dabei die Schrift und das Buch, das jahrtausendealte Leitmedium, aus dem die noch immer dominante Kernvorstellung "Literalität" abgeleitet wird.

Konsequenzen der Digitalisierung

Analoge Schrift hat Produktcharakter, denn sie besteht aus räumlichen Zeichen, die der Mensch mit Werkzeugen herstellt. Die Schriftgeschichte hat in ihrer Entwicklung eine Vielzahl hochkomplexer "Systeme" graphischer Organisation entwickelt, wie sich speziell am Buchdruck und seinem Konzept "Seite" zeigen lässt, das von den mechanischen Faktoren der Standardisierung wie Oktavformat, Foliierung (Blattzählung), Paginierung (Seitenzählung) und Titelblättern sowie Kapiteleinteilung und Textanordnung in Spalten geprägt ist. Genuin digitale Texte kennen dieses Konzept nicht, weil es in digitalen Medien nicht benötigt wird.

Damit bildliche, schriftliche oder sprechsprachliche u.a. Informationen von einem Computer verarbeitet werden können, müssen sie digitalisiert, und das heisst "entmaterialisiert" resp. in einen andern, einen "logischen" Zustand überführt werden. "Digitalisierung ist in diesem Sinne die Bestimmung relevanter Merkmale sowie die Separierung und die getrennte Erfassung dieser Merkmale". Digitaliiserung löst die ursprüngliche Kontinuität analoger Objekte auf, um diese überhaupt erfassen zu können. Damit löst sich aber auch das Konzept einer "Originalität" auf, die notwendigerweise material begründet war - mit teils unabsehbaren rechtlichen Folgen. (nach Johannes Bittner, "Digiltalität,Sprache,Kommunikation", S.281ff).

Die objekthafte Räumlichkeit analoger Schrift ist ein wichtiges Differenzierungskriterium gegenüber der Rede, resp. der gesprochenen Sprache, dem Analogiemedium schlechthin, weil dieses verschiedene Zeichen zu einer untrennbaren Einheit von Sprache, Prosodie, Mimik und Gestilk verbindet und somit eher ein Kontinuum mit Ereignis- oder Prozesscharakter darstellt . Mit ihrer zwei- oder dreidimensional gestalteten Räumlichkeit hingegen konstituiert Schrift ein zeitindifferentes Objekt, das die Flüchtigkeit der Rede geradezu aufhebt und eine gedächtnisunabhängige Information sicherstellt.

Digitale Schrift kommt im Unterschied zur analogen Schrift ohne diese Räumlichkeit aus. Zur Spezifizierung der besonderen Oberfläche sind lediglich optional hinzuzufügende Informationen, resp. Angaben zu Schrifttype, Grösse, Farbe usw. Gleichwohl kann auf die Darstellung in einer Oberfläche zu bestimmten Zwecken natürlich nicht verzichtet werden, weil Zeichen und Texte sonst für den Menschen nicht wahrnehmbar wären. Neu orientiert sich die Oberflächengestaltung von Texten derzeit und auch in absehbarer Zukunft primär am Bildschirm als technisch definiertem Rahmen (Screen. oder Interfacedesign).
Die originäre "Strukturform" digitaler Information ist dagegen die Datenbank mit ihrer Loslösung der Inhalte von einer gegebenen Oberfläche. "Es ist die mit der Digitalität einhergehende Umformung von Informationen mittels einer neuen Informationsdefinition, damit verbunden die Umorganisation von Informationsgewinnung, -verarbeitung, -übermittlung und -speicherung" (Johannes Bittner, "Digiltalität,Sprache,Kommunikation", S.26).
Symptomatisch dafür ist insbesondere auch der Fliesstext, so wie er an der Oberfläche greifbar wird:
(schieben Sie die Fensteröffnung ihres Browsers zum Zweck des Tests enger zusammen resp. auseinander)
Fliesstext ist ein Text, der sich einer wandelbaren Oberfläche anpasst, indem er sich automatisch auf die jeweilige Zeilenbreite ausdehnt; um die Zeilenlänge im digitalen Medium explizit festzulegen, muss ein Zeilenbruch einprogrammiert werden
(der HTML-Befehl dafür heisst <BR>) oder die Zeilenlänge mittels fixierter Tabellenbreite bestimmt werden,
wie die hier ab jetzt wieder übliche Formatierung belegt.
Statt des "Umblätterns "auf eine neue Seite wie im Buch wird in digitalen Texten "gescrollt", d.h. der Bildschirmausschnitt wird nach oben, rechts, links oder nach unten verschoben. Mit den üblichen Bildschirmformaten im Verhältnis von 4:3 sind in etwa die Breiten-/Höhenverhältnisse traditioneller Buchformate umgekehrt worden. Noch nicht annähernd erforscht ist, welchen Einfluss dieser Formatwechsel auf die Oberflächengestaltung und die Kommunikationsmöglichkeiten digitaler Texte nimmt.

Es gibt offensichtlich geradezu "paradigmatische" Differenzen medialer Art zwischen analoger und digitaler Schrift. Mediendidaktik darf solche medial bedingte konzeptionelle Differenzen nicht verschleiern, denn medienspezifische Unterschiede zeigen sich auch bei den ebenso hochkontextualisierten Kommunikationsformen im sprechsprachlichen Mediengebrauch. Es braucht daher eine sehr viel intensivere und weitergehende Forschungszusammenarbeit mit den auf lesefördernde "Literalität" fixierten sprachwissenschaftlichen Kreisen, die nur von einereinseitig aus der geschriebenen Sprache abgeleiteten kodifizierten Norm der deutschen "Standardsprache" ausgehen und die kaum Methoden, Perspektiven,Kriterien und Kategorien zur Beschreibung und Analyse der fortgesetzten Medialisierung von Sprache und Kommunikation kennen.
(nach Johannes Bittner, "Digiltalität,Sprache,Kommunikation", S.272-287)

medialogos


"Vorbemerkung"



"digitale Zeichen"

Stand: 22. 3. 06
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