Plädoyer für (und wider) das Elitäre

Vortrag von Dr. Armin Schlienger an der Matura-Feier 1975 des Lehrerinnen-Seminars Zofingen

Meine Damen und Herren,

I.
Der Anlass, dessetwegen Sie die 15 Patentierten mit Eltern und Freunden, wir Lehrer, Schüler und Behördemitglieder hier sitzen, dieser Augenblick verlangt, fürchte ich, grosse Worte. Vielleicht sogar zu Recht. Ich könnte selber ja auch nicht  behaupten, es nicht darauf angelegt zu haben, der Situation entsprechend „Wlchtiges“ zu sagen. Dennoch graut mir vor dem unnötigen Gewicht, das meinen Bemerkungen durch die feierlichen Erwartungen beigemessen wird. Im Unterschied zu früheren Ansprachen mit Themen wie „suchendes und süchtiges Leben", "Nachlese zu einer Bildungsreise" oder "Natur und Mensch“, habe ich nämlich nicht Fakten, nichts objektiv Gesichertes mitzuteilen. Einzig das an dieser Schule bei diesem Anlass Tradition gewordene Prinzip, dass ein Lehrer zu seinen wegziehenden vormaligen Schülern aus seinem Arbeitsgebiet, letztlich somit eben auch aus seinem Gedankenkreis spricht, legitimiert mein Vorhaben, Ihnen in letzter Minute noch Subjektives an den Kop! zu werfen - ein  barer Subjektivismus insofern, als ich auf der einen Seite mit  Ihnen anderseits von diesem Augenblick aus plaudern möchte. Abgesehen von diesem grundlegenden Umstand möchten es, wenn Sie genau besehen, was ich zu sagen habe, eigentlich· banal-überflüssige Anmerkungen zum kommenden Alltag sein, die Sie so oder ähnlich bestimmt auch schon gemacht oder irgendwo gehört haben. Damit Sie aber objektiv-zwinglichen Grund haben zuzuhören, werde ich, gemäss Programmzettelt nicht einfach drauflos plaudern, sondern etwas wie ein Referat, oder eine Art Plädoyer, einen zusammenfassenden Schlussvortrag vor Gericht halten: Sie sollen sich zum Urteil aufgerufen fühlen, sollen Stellung nehmen müssen - zugunsten des Angeklagten, wie ich als Verteidiger hoffe, gegen den Angeklagten, wie ich als Staatsanwalt erwarte ... und umgekehrt.

Aber Sie brauchen nicht zu erschrecken, icb werde diese Doppelrolle nicht spielen, sie ist meine Rolle als Lehrer. Und mir liegt, auch als Lehrer, daran, Ihnen Einblick in die Methode zu geben: nicht die Fiktion einer Gerichtsverhandlung ist massgeblich, sondern ihrer Strittigkeit wegen die These, von der ich ausgehen möchte.

Es wird behauptet, Sie seien, wie man so schön sagt, Elite. Lehramtshalber ist daran zu erinnern, dass "Elite" vom vulgärlateinischen "eligere" abgeleitet wird und dem Wortlaut nach "Auslese" bedeutet. Dem Begriff nach sind Sie also aufgrund Ihrer Eigenschaft und Leistung eine "Minderheit höchsten Werts", denn
Sie üben demnächst, in unserem staatlichen Gemeinwesen entscheidend Macht aus. Ihre Leistung ist, wie ich als Staatsangeetellter und halbwegs vereidigter Anwalt dieses Staates zu betonen habe, Staatsdienst. Ihre Eigenschaft ist die staatlich attestierte Fähigkeit, im Interesse des Staates den Nachwuchs zu betreuen.
Die Oeffentlichkeit erwartet von Ihnen als den "Erwählten" zum Dank für den während 13 (und demnächst 15 Jahren) vermittelten Bildungegenuss engagierten Einsatz. Vergessen Sie nicht: mit
Hilfe dieses Staates und seiner Schule sind Sie in die sogenannte "Führungsschicht" aufgestiegen.

II.
Also nochmals: vor rund 13 Jahren sind Sie in ein gut funktionierendes Lehr-Getriebe geraten und wechseln nun aus dem Zahnräderwerk in den Triebfederteil hinüber, wie wir anzunehmen geneigt sind. Mit folgender Bemerkung möchte ich Ihnen - dies zur Warnung - nicht unbedingt Sand in die Augen, sondern (mit Günter Eich) lieber ein bisschen ins Getriebe streuen, bevor Sie sich als Triebfeder abspielen müssen. Ihre Führungsaufgabe ist die der Bildungs-Vermittlung - soweit sind Sie, glaube ich, noch alle einverstanden. Sie sind, gewissermassen, „Ellte-Truppen der Lehrmacht" - wobei mir die penetrant-pathetische Bildlichkeit selber missbehagt, doch ich brauche sowohl das Missbehagen wie
auch diesen dem Wort "Elite" angestammten militärischen Bildbereich zur Verdeutlichung Ihrer neuen Stellung. Das Volk, das Ihnen soeben noch Dank abverlangt hat, wird Ihnen Anerkennung zollen, wenn Sie analog zu den Elite-Truppen der Wehr-Macht, die prinzipiell nicht über die Wehrziele zu diskutieren haben, in Ihrem Bereiche der Lehr-Macht keinen Zweifel darüber aufkommen lassen, dass Sie Schule und Staat als kongruente Aufgaben betrachten. Es ist Ihnen kaum entgangen, dass ich eben elnen markanten Gedankensprung vollzogen habe: über Lehrziele diskutieren alle Lehrer, die etwas auf sich halten. In dieser Hinsicht sind auch Elite-Soldaten nicht faul: auch sie erwägen ihr "Vorgehen". In Frage gestellt wird aber der Rahmen Ihrer Bildungsvermittlung. Wenn Sie sich als "Staatsdiener mit Bildungsvermittlungeauftrag" definieren, werden Sie bIosses "MitteI“ sein und Ihr Tun zwar ein "Dienen“ , aber es wäre statt ein "jemandem Dienen“t nur ein "für jemand Dritten ' Dienstbar-Sein’ “. Sie dienten mittels Ihrer Eigenschaft als spannbare Feder und Kraft der Ihrem Spannungsspeicher eingelagerten Energie, über die Sie die Kontrolle nicht haben, einer Triebkraft, deren getrieblichen Ablauf Sie sicherstellen müssen. Aber das muss ich, um nicht unnütz Verwirrung und Unwillen zu stiften, kurz begründen.

Ich versuche es mit einem vereinfachenden, vielleicht aber umso treffenderen Fall:
Unsere vorschulpflichtigen Kinder - hier wenigstens rede ich aus objektiver Sicht täglicher Erfahrung - lernen zur Zeit auffällig mühelos, sich auf sich selbst verlassend und immer neu die Lerninitiative ergreifend. In der Schule werden andere, Sie, die Lehrer, über das Was, Wann, Wo und Wie des Lernens entscheiden; die Kinder werden begreifen, dass es für ihr Vorankommen gut ist, sich auf andere, auf Sie, zu verlassen und werden bald das als wichtig akzeptieren, was Sie sie lehren, bis sie überzeugt sind, dass etwas, wenn es wichtig ist, ihnen gelehrt werden muss (Everett Reimer). Von da an braucht es Lehrer und Schule tatsächlich. Und alle tun wir nun so, als ob es uns Lehrer tatsächlich geben müsste.

Ich hoffe, Sie haben diesen Schritt trotz lediglich andeutender Knappheit einsehen und als Denkmodell fürs erste bejahen können. Das Abschieben der Lerninitiative samt Lerninhalten auf andere, diese Kompetenz-Delegation haben auch Sie - überprüfen Sie doch die katastrophale Unlust des durchschnittlichen Seminaristen am Studieren auch aus Ihrer Sicht - nicht selten praktiziert, und an den Universitäten steht es - abgesehen von ein paar kurzatmigen Reformansätzen - kaum wesentlich besser. Unsere "Bildung" ist durch die Institution Schule massiv indoktriniert, unmerklich zur unabschaffbar notwendigen Apparatur geworden. Eine solche Lernmaschinerie ist selbstverständlich auf öffentliche Gelder angewiesen und, zumal sie ja ihren "öffentlichen Wert" auch proklamiert, von dieser Oeffentliohkeit abhängig. Wie argwöhnisch diese politisch-staatliche Kontrolle ausgeübt wird, 1st nicht nur an Kantonsschulfällen abzulesen; dahinter steht ein von uns allen schon fast als normal angesehenes Prinzip der Konformität von Erziehung und politisch-wirtschaftlichen Interessen.

III.
Sie wechseln also - die Fragwürdigkeit dieser Standesänderung sollte in etwa schon sichtbar geworden sein - in den Triebfederteil hinüber, um Ihre Kraft zu entfalten. Ich plädiere nun für eine elitäre Lehrerschaft, die sich nicht nur Rechenschaft gibt, welches übergeordnetes Räderwerk ihre Triebfedern aufzieht und abspielen lässt, sondern sich auch aus diesem Getriebe zu emanzipieren wagt. Natürlich sehe ich die Staatsanwaltschaft protestieren und ihre Elite-Truppe verteidigen, weil solche aussenseiterische Willkür wenn nicht staats- so doch systemgefährdend sei. Ich höre den Staatsanwalt mahnen, der Dritte, dem die Schule dienstbar ist, seien wir, denn der Staat sei der Souverän; ich höre und muss gestehen, es nicht ganz zufällig mit einem Deutsch/Schweizer Nationaldichter zu halten, dem das Prinzip der Mehrheit, weil es nur quantifiziert, als barer Unsinn erscheint.

So verwaschen freigeistig Ihnen solche Ansichten vorkommen dürften, Halbwahrheiten haben doch etwas für sich, nämlich 50% Wahrheit, und das ist (nach Gabriel Laub) ein ungemein hoher Prozentsatz.

Und ausserdem hat die “Verteidigung“ ja auch erst die Hälfte gesagt. Doch es stimmt, mit "gutem Recht“ stossen Sie sich an solch elitärer Eigenmächtigkeit, denn wenn jeder das Recht hätte, nach seinem Kopf in Bildung und Erziehung herumzuwursteln ...! Gewiss, dieses Recht haben wir nur als Eltern. In der Schule hingegen herrscht Ordnung. Ordnung der Mehrheit. Es ist nicht erwünscht, dass der Lehrer, statt nur von der Technik der Asphalt-Gewinnung und -Verlegung zu reden, über den zivilisatorischen  Widersinn der Autostrassen-Bauerei spricht. Es ist hochpolitisch und gilt darum als tendentiös, ja undemokratisch, statt nur von der Schönheit der klassizistischen Villa auch von der Unverantwortbarkeit der Einfamilienvillen-Ideologie heute zu reden: man mischt sich da nämlich ins "gute Recht", das heisst in bestehende Rechtsverhältnisse, die, wenn auch gewiss nicht von der Mehrheit genützt, so doch von ihr zum eigenen Schaden  gebilligt werden, weil die Schule diess Realitäten geflissentlich tabuisiert hat und erst jetzt, da die Parteien sich deswegen ins Zeug legen, ganz zaghaft nachholt. Aber es gibt noch brisantere Tabus, für die uns "glücklicherweise" noch tiefere Blindheit schlägt. Ich plädiere deshalb für eine elitäre Schule, die nicht das propagandistische Sprachrohr der bestehenden Verhältnisse zu sein hat.

Sie täuschen sich kaum über die Meinungsrichtung, wenn Sie aus dem Gesagten fortschrittshörig-progressive Nüancen herauswittern. Falls er’s ganz geschickt machen wollte, müsste der Staatsanwalt dieses elitäre Gebäude mit dem Stichwort "Mythos der Machbarkeitl“ (Egon Tuchtfeldt) in Flammen zu setzen trachten. Ich meine aber, dass jene, die die Machbarkeit fürchten müssten  - denn konkrete Machbarkeit gibt es tatsächlich - ihr den "Mythos" zugelegt haben, um sie in der Verabsolutierung ablehnen zu können. Selbstverständlich unterschiebe ich - das ist der Vorteil der Narrenfreiheit in monologförmiger Rede - eigenmächtig dem imaginären Gegner Einwände fast ganz so, wie sie mir passen.

Ich will also die Staatsanwaltschaft, respektive die mehrheitliche Oeffentlichkeit _ wie Sie sehen wieder eine absichtliche Slmplifizierung _ wieder einmal zu Wort kommen lassen, um mitzuteilen, dass zugegebener-massen kein noch so herkömmlich orientierter und konservativ empfindender Mensch sagt, als Lehrer müssten Sie vorbehaltlos unser Schul- und Staatssystem bejahen. Dass aber die Kinder lernen sollten, alles, grundsätzlich alles, die Schule, unser Bodenrecht, die Äutobahn-Projekte, die Neutralität und Armee, selbst Grundsätze, in Frage zu stellen, das wirkt schon eher destruktiv und chaotisch.

IV.
Ich könnte nun entgegen, dieses In_Frage-Stellen heisse ja nicht  Verwerfen, sondern nur "Fragen-Stellen" und sei eine Art Beweglichkeitstraining für den Intellekt, also eher harmlos. Genau das meine ich aber nicht. “In-Frage-stellen-Können" heisst , die Voraussetzung schaffen, um etwas allenfalls auch verwerfen  zu wollen. Unsere Kinder sollen nicht nur lernen, Fragen zu stellen, Antworten in Frage zu stellen sowie fremde und selbstgefundene Antworten wieder umzuwerfen. Dieses akademische Spielchen ist längst bekannt. Keineswegs neu ist auch das, wofür ich plädiere: dass unsere Kinder lernen, sich für die selbstgefundenen und ausgewiesenen Antworten zu entscheiden. Sie sollen in die Lage versetzt werden, durch Hinterfragen der je festgestellten Zustände sich ein kritisches Urteil zu bilden. Die Schüler - und dabei spielt im Prinzip das Schulalter nicht die erste Rolle - sollen statt zur Systemkonformität zur Selbstverantwortung und zur Kritikfähigkeit geführt werden. Sie sollen - selbst wenn das furchtbar programmatisch klingt und nach einem Humanismus der Tat riecht - sehen, fühlen, denken und handeln lernen können, um das, was sie als menschenwürdig erkannt haben, wenigstens wirklich wollen zu können, denn das wirklich-wollen
ist schon der Übergang von der Theorie in die Tat. Und mindestens soweit muss die Schule Hilfe leisten.

Die Staatsanwaltschaft liebt, bei Postulaten, auch kein Pathos. Wechseln wir also wieder einmal ins Metaphorische hinüber, um sie mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Elitäre Lehrer sind Menschen, die gerade als Menschen mehr sind als blosse "EliteTruppen", insofern Truppen nicht bestimmt sind, Macht zu geben, wohl aber (was Generäle aber immer zu widerlegen verstanden haben) Macht zu nehmen oder zumindest zu verteidigen. Die "Elite" der Staatsanwaltschaft läuft Gefahr, eich als Führungsschicht im

Besitz der Herrschaftsmittel mit den Interessen der Oberschicht zu identifizieren, die bei uns zwar ziemlich breit gestreut, aber auch ziemlich weit ideologisch infiziert ist. Ich plädiere für eine Elite, die sich von der "herrscherlichen" auch darin unterscheidet, dass sie als "Kämpfer" den Generalstab nicht im Tornister, sondern im Kopf hat, indem sie aus eigener Kompetenz handelt, das heisst, wie ein "souveräner Elite-Soldat" das, was sie für notwendig erachtet, an ihrem Ort, mit ihren Mitteln und in genauem Eingehen auf die bestehende Realität aber in planvoller Voraussicht voranzubringen trachtet, wobei auch ein wirkungs-voller Zusammenschluss gleicher Bestrebungen eingeplant wird.

V.
Bei soviel Fanfarenschall kann ich recht gefahrlos auch den Begriff der "Avant-Garde" einführen, der ja schliesslich auch militärischer Herkunft ist. Ein Staatsanwalt weiss, dass sich die militärische "Vorhut" vom gesamten Truppenkörper zwar distanzieren, aber niemals lostrennen darf. Dieser Zusammenhalt, das Wirken im gesellschaftlichen Kontext, das sind die restlichen 50% Wahrheit - aber bitte, fangen Sie nicht an
zu rechnen oder sich eine taktische Lage für die Vorhut auszudenken, meine Damen und Herren Staatsanwälte. Es stimmt doch, die Vorhut hat ins wenig Bekannte vorzustossen, muss sondieren, interpretieren und veränderte Verhältnisse übermitteln. Sie, die 15 elitären Avantgardisten, haben neue Zusammenhänge zu erschliessen, in neuen Konsequenzen zu denken und werden versuchen, die Bereitschaft zur Anpassung an die als verändert erkannte Lage zu wecken und zu fördern. Das "Elitäre“ der aristokratisch-herrscherllchen Lehr-Macht ist nicht nur um die Selbstverantwortllchkeit zu überbieten, denn Emanzipation um ihrer selbst willen ist Flucht ins Unverbindliche; das "Elitäre" des Lehrers der Avant-Garde beruht auf einem veränderten Bildungsbegriff, denn dieser Lehrer emanzipiert sich von der Schule, um sich statt für Bildungs-"Vermittlung" für die anvertrauten Menschen zu engagieren.

Das elitäre Wirken im gesellschaftlichen Raum, für das ich plädiere, ist, wie Sie sehen, begrifflich leicht zu errechnen, so leicht immerhin wie die Seitenvektoren, die einen kontinuierlichen, zäh und unentwegt geradeaus strebenden Mehrheits-Strom aus der Richtung zu bringen haben; der Aufwand an notwendiger Richtungsänderungs- und Beschleunigungs-Energie ist hier wenigstens fasslich. In der gelebten Praxis aber braucht es dafür Leute, Menschen, die, weil sie in Zusammenhängen denken, sch im Interesse der Gesamtheit für das Ganze engagieren und mit Mut für das Ganze aufs Ganze gehen. Ohne jedes Pathos gesagt:

Menschen, mit denen wir werden rechnen müssen.